Japanische Geschichtsnarrative: Zwischen Viktimisierung, Heroisierung und Globalisierung
Liest man die wissenschaftliche Literatur zur Erinnerungskultur in Japan, so taucht immer wieder der Begriff victimization auf, um das japanische Geschichtsbild und die damit verbundene Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg und die Atombombenabwürfe zu beschreiben. Unsere Forschungen können diese Beschreibung des japanischen Geschichtsbildes stützen, es sind aber auch andere Aspekte deutlich geworden, die sich nicht mit dem Schlagwort victimization beschreiben lassen. Im Folgenden werden verschiedene Geschichtsbilder und -narrativen aufgelistet, die uns an verschiedenen Orten begegnet sind:
Victimization
Ein Schlagwort, das regelmäßig in der Literatur zu Japans Erinnerungskultur wiederzufinden ist, ist die Selbst-Viktimisierung Japans oder auch auf Englisch vicitimization. Viele Forscher behaupten, dass in der japanischen Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg Japan oft selbst die Opferperspektive einnimmt. So solle die japanische Erinnerungskultur insbesondere großen Wert darauflegen, an das Leid der Atombombenabwürfe zu erinnern. Vor allem in den unmittelbaren Nachkriegsjahren soll es an kritischer Auseinandersetzung mit den eigenen Kriegsverbrechen gefehlt haben.
Besonders deutlich wurde dieses Geschichtsbild bei der Exkursion nach Japan, vor allem im Yasukuni-Schrein in Tokio und im Friedensmuseum und Friedenspark in Hiroshima. An diesen Orten wird Japan bzw. die japanische Bevölkerung als Opfer des Zweiten Weltkrieges dargestellt. Niemand wurde direkt verantwortlich gemacht, d.h. es gab keinen direkten Fingerzeig auf die Amerikaner, aber Eingeständnisse eigener Schuld und Erwähnungen eigener Kriegsverbrechen suchte man an diesen Orten vergeblich. Manche Formulierungen historischer Ereignisse an diesen Orten erweckten den Eindruck, als wolle man leugnen, dass Japan überhaupt Kriegspartei und Kriegstreiber im Zweiten Weltkrieg war, sondern ausschließlich Opfer.
Globalisierung von Erinnerungskultur
In der Forschung wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Globalisierung auch vor der Erinnerungskultur nicht Halt macht, dass Erinnerung und Erinnerungskultur zunehmend global gedacht werden müssen. Das Gedenken an die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki ist nicht nur zu einem Symbol für den Frieden in Japan oder Asien geworden, sondern für den Frieden in der ganzen Welt. Während der Exkursion konnte man an einigen Orten beobachten, wie die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg mit einer Mahnung an die Welt und einem Appell für den Weltfrieden verbunden wurde, z.B. am Denkmal aus dem Jahr 1995 am Tokyo Metropolitan Government Building (Aufschrift „An Appeal for Peace by the Citizens of Tokyo“).
Ein kurzer Ausschnitt aus der darunter eingeprägten Inschrift, der das „Globale Narrativ“ verdeutlicht:
„Am 10. März 1945, heute vor fünfzig Jahren, wurde Tokio bei einem massiven Luftangriff in eine ausgebrannte Ruine verwandelt und über Nacht gingen 100.000 wertvolle und unersetzliche Menschenleben verloren. Ebenfalls vor fünfzig Jahren brachten die Ereignisse in Hiroshima und Nagasaki eine für die Menschheit noch nie dagewesene Tragödie auf der Erde ans Licht. […] In einer Zeit, in der die Welt stärker voneinander abhängig ist als je zuvor und das Bedürfnis nach gegenseitiger Zusammenarbeit zunimmt, können wir nicht ohne Frieden auf der ganzen Welt leben.[…] Frieden ist vor allem die Grundbedingung von allem. Ewiger Friede, das Grundprinzip der japanischen Verfassung, ist unser aller Wunsch und das gemeinsame Ziel der gesamten Menschheit. Wir treten bei jeder Gelegenheit entschieden für die Abrüstung und die Abschaffung von Atomwaffen ein. […]“
Heroisierung und Glorifizierung
Ein Geschichtsnarrativ, das in der wissenschaftlichen Literatur nicht beschrieben wird, aber während unserer Exkursion zum Yasukuni Shinto-Schrein auffiel, ist die Heroisierung von Personen, die im Zweiten Weltkrieg tätig waren. Dieses spezielle Geschichtsbild war jedoch ausschließlich dort anzutreffen. Der Yasukuni-Schrein ist ein Shinto-Schrein, der 1869 während der Meiji-Restauration errichtet wurde. In ihm werden Kriegsgefallene, die für den Tennō gestorben sind, als Götter (kami) verehrt. Die Kriegsgefallenen werden seit den Wirren der Restauration von 1868 bis zum Zweiten Weltkrieg bestattet. Nach den Tokioter Prozessen verurteilte Kriegsverbrecher wurden im Schrein eingeschreint und verehrt. Der Schrein wurde nach dem 2. Weltkrieg entstaatlicht und ist seitdem keine offizielle staatliche Gedenkstätte, sondern eine unabhängige religiöse Körperschaft.
Von der Opferrolle hin zur Täterrolle?
Am 13.03.2023 diskutierte unsere Forschungsgruppe mit Prof. Dr. Saaler, Professor für moderne japanische Geschichte an der Sophia Universität in Tokio und Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Japan, über die Frage, wie die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs in Japan aufgearbeitet werden.
Diskutiert wurden die Aufarbeitungsprozesse und die Versöhnungspolitik Japans in den 80er und 90er Jahren, die Rolle der Kaiserfamilie bei der Aufarbeitung, der Geschichtsrevisionismus am Yasukuni-Schrein und die Haltung des ermordeten ehemaligen japanischen Premierministers Shinzo Abe zu Entschädigungszahlungen an Korea.
Während die ersten Nachkriegsjahre stark von Viktimisierung geprägt waren, argumentierte Prof. Dr. Saaler, dass sich in Japan durch die Versöhnungspolitik der 1980/90er Jahre und die jüngste Aufarbeitung ein Täterbild etabliert habe. Hiroshima bleibe in den Augen der meisten ein unnötiger Akt und ein Kriegsverbrechen, dennoch finde sich z.B. in japanischen Schulbüchern wenig Kritik an den Amerikanern oder ein "Fingerzeig" auf die Amerikaner. Viel mehr wird das Nichthandeln des Kaisers nach dem ersten Atombombenabwurf kritisiert, in den Augen der meisten hätte Nagasaki durch eine frühere Kapitulation verhindert werden müssen.
Von Interesse war vor allem, wie die Studenten von Prof. Dr. Saaler zur Vergangenheitsbewältigung stehen und wie der Diskurs innerhalb der Universität ist. Herr Saaler meinte, dass die Studenten der Vergangenheitsaufarbeitung und -bewältigung nicht grundsätzlich kritisch gegenüber stünden, aber viele seien der Meinung "Japan hat sich genug entschuldigt" und viele wüssten nicht viel über die politischen Entschädigungsmaßnahmen, was auf die geschichtsrevisionistischen Kräfte in der Politik um Shinzo Abe zurückzuführen sei.
Unserer Einschätzung nach ist das Narrativ der Täterrolle in der Öffentlichkeit nur sehr selten wahrnehmbar, es ist uns aber vor allem in den inoffiziellen Medien und in der Literatur, wie z.B. in Manga, begegnet.